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Die Bilanz, eine allgemeine Gesellschaftskritik (Erster Akt)

Die Bilanz, eine allgemeine Gesellschaftskritik (Erster Akt)

(Erster Akt des Schauspiels)

Dies ist das fiktive Gespräch zwischen einer Frau namens Sennja, die jemandem ein paar Fragen gestellt hat und demjenigen der darauf antwortet. Der Text fängt kurz nach dem Beginn ihres Gespräches an.

„Ok, Du hast mich aufrichtig gebeten Dir ein paar Antworten auf Deine Fragen zu geben. Ich habe Dich gewarnt, dass es schmerzen wird. Du warst einverstanden. So werde ich Dir ein paar ehrliche Aussagen geben.

Ich bin niemand.
Ich habe alles dafür getan es zu werden. Habe meiner eigenen Scheiße unverhohlen in die Augen gesehen und meinen gesunden Menschenverstand benutzt, jahrelang, bis es mich am Ende verbrannt hat. Dann war ich fertig mit der Sache.
Mein Herz ist von Dankbarkeit erfüllt, meine Seele von stolz.
Meine Fassade aus Kaputtheit, Rauheit, Wahnsinn und Schlechtheit ist mir gegönnt.
Ich halte dies gegen Eure Welt aus Plastik, Hässlichkeit und Grausamkeit. Eine globale Welt in der alles aus einer ungemein gepriesenen, geliebten und uneingestandenen Grundhaltung resultiert.
Egoismus.
Ich kenne eine Wirklichkeit aus Vernunft, Intelligenz, Freude, Menschlichkeit und ja, verklärter Begriff, Liebe.
Ich bin nicht der einzige.
Während Ihr aus den Zähnen lächelt oder lacht und Euren Ziergärten, den zu vielen Räumen in Euren Häusern und weiteren solcher rein kosmetischen Verhübscherungen an euren Ichs nachrennt und dafür Eure Zeit, also euer Leben, verschwendet, verrecken am anderen Ende der Hierarchie Leute an zu wenig Nahrung.
Solltet Ihr dann mal die Zeit finden zu hübschen Treffen, lästert Ihr über die bei denen Ihr erst morgen wieder seid, um mit diesen über die zu reden bei denen Ihr heute wart, erzählt von den kosmetischen Besserungen, was wiederum einfach weiteres dieses illusorischen Verhübscherungs-Verhaltens ist oder versucht auf irgendeine Weise besser zu sein als Euer Gegenüber oder wenn das nicht klappt zumindest als irgendwer. Am liebsten natürlich einfach der Beste. Starkes Hobby.
Das einzige Glück besteht aus Erwartungen an die Zukunft.
Es wird Denken zelebriert, statt Nachdenken.
Sinnvolle Fragen, Überlegungen, Verhaltensweisen und Gedanken von einigen wenigen Individuen werden belächelt oder ausgelacht. Meist hinter dem Rücken. Die wenigen die dieses sinnvolle Denken praktizieren trauen sich nicht zu reden oder zu fragen, weil sie für verrückt gehalten oder ausgegrenzt werden als wären sie Spielverderber. So leiden sie wie die breite Masse im Stillen. Nur ohne dauernd zu grinsen.
Über Dinge die anderen Menschen und Lebewesen in hohem Ausmaß schaden um anderen, meist wenigen, alles ein wenig zu verschönern gehe ich besser nicht ins Detail. Ich will nicht schonungslos erscheinen.

Liebe Sennja, Du merkst meine Antworten sind selber nur indirekte Fragestellungen. Ich will es klären. Die Antworten resultieren mit Klarheit und Offensichtlichkeit aus eben diesen Fragestellungen. Ich brauche sie nicht zu geben.
Kannst Du noch? Oder soll ich lieber aufhören?
Ok, dann weiter.

Es geht hier nicht darum jemanden zu beschuldigen. Sondern wir gucken uns einfach nur einmal an was ist. Eine Bilanz. Nichts weiter. Was wir daraus machen… wir werden sehen.
Keine Forderung nach Änderung. Keine nach Wiedergutmachung.
Nur mal hinsehen. Was man dann damit macht bleibt jedem selbst überlassen.
Man muss alle diese Dinge nicht voll und ganz ändern. Wahrscheinlich ginge das gar nicht. Es geht nur darum, dass Du Sennja und der Leser sich ein paar Dingen bewusst werden. Vielleicht bessert man sich und seine Lebensqualität und die der anderen daraufhin ein wenig, vielleicht nicht.
Was ich sage ist nur ein Werkzeug. Wie eine Zutat oder ein Gewürz in einem Mittagsgericht, kein Rezept/Vorschlag komplett so zu leben. Nur ein „dazu“, das man mit hinein mischen kann, hinzufügt. Oder auch nicht.
Der Text bezweckt nicht all dies zu verurteilen oder abzuschaffen. Alles hat auch positive Seiten. Es geht nur darum es alles einmal zu sehen. Es bewusst zu machen.Es geht hier nicht um das Kollektiv. Es geht um Dich, das Individuum.
Es bedeutet nicht es sei schlecht mit einer Familie in einem schönen Haus zu wohnen und weltliche Vergnügen zu genießen. Solche Dinge sind schön. Auch wenn ich jetzt widersprüchlich erscheine… Bleiben wir vorerst, bei unserer ersten Ausführung, dabei es als eine Zutat im Gesamtgericht zu betrachten.

Es gibt eine Hierarchie.

Die Mitten der Hierarchie stützen durch Übereinkunft und Gewähren die Höhen.

Der obere Teil zieht seine Energie, in jeglicher Form, aus dem mittleren und, dort am brutalsten, unteren Teil.

Die Grausamkeit des Mittelalters trägt heute einfach nur neue Klamotten. Modernisiert, technisiert.
Eine Weiterentwicklung der Zivilisation findet fast nur in der Optimierung der bereits angesprochenen Kosmetik des Ichs statt, außerdem im Vergnügungsbereich, der im Grunde nur zur Ablenkung von unserem persönlichen Fehlverhalten dient und in der Kriegsführung oder in der Aufrechterhaltung und Kontrolle der Hierarchie.

Zu all den bisher gesagten Dingen sagt man gerne von sich aus oder auf Nachfrage, „das ist halt so“.
Klar, das ist so. Es ist so, nicht das Leben ist so. Es ist zwar so, aber es müsste nicht so sein.
Das war doch schon immer so, sagt ihr? Zu lange meinem bescheidenen Empfinden nach.
Ich stehe nicht alleine da mit diesem Empfinden.
Gut, dass du solch naive Ausflüchte nicht gebrauchst, Sennja. Es spricht für Dich.

Ihr sagt zu Leuten wie mir „sei mal normal“? Normal? Wenn Eures normal ist und unseres krank kann ich nur jedem, der ein bisschen aufgeweckter Natur ist, empfehlen sich krank zu machen.
Zum Wohl seiner selbst und des Restes dieser kleinen Tragödie namens Planet Erde.

In der Disko steht Ihr am Bierchen nippend rum und guckt ob ihr angeguckt werdet um in Euch die Illusion zu erzeugen… Ihr wisst worauf ich hinaus will, genau, auch nur Kosmetik. Anstatt auszuflippen und Eure Seelen roh zu tanzen. Oder ein wirkliches miteinander zu genießen.
Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind bis auf ein Minimum reduziert durch ein durch Egoismus erzeugtes Dazwischen. In Wirklichkeit müsste jeder merken, dass das jeweilige Gegenüber dasselbe ist wie er und sich dementsprechend verhalten. Das gilt natürlich auch für die Liebe. Es gilt für die gesamte Welt.
Das Märchen vom „es geht nicht immer ohne Streiten“, ist eine Ausrede.
Fast alles was hier an Glück verkauft und gekauft oder geraubt wird kann man mit einem geflügelten Wort entlarven: Kopffreude.
Es ist kein wirkliches Glücklichsein, sondern nur leere Gedankenhülsen, die kurz eine Art aus Egoismus resultierendem Kick erzeugen. Ein paar Sekunden lang. Dann ist wieder alles wie vorher. Alte blödsinnige Wünsche bleiben. Neue kommen dazu. Probleme, die keine sind, trüben das Gemüt.
Die Wünsche sind meist rein kommerziell. Mal ehrlich, wie soll sowas vernünftig funktionieren? Zufriedenstellen?
Die Konten der Konzerne werden zufriedengestellt, sonst nix.

Meint Ihr die ganzen Weisheiten der vergangenen Jahrtausende die ihr im Netz so teilt sind zum angucken da? Das wäre Poesie? Machen soll man das. Umsetzen. Nicht vor sich herumtragen. Ich spars mir. Oder doch, ich sags, Kosmetik.

Freundschaften in denen zugleich Feindschaft herrscht sind keine Freundschaften dem Begriff nach. Innerhalb einer Freundschaft herrscht Konkurrenzlosigkeit.

Ihr sagt Tiere werden bei lebendigem Leibe für Pelze gehäutet. Ihr sagt Kinder verhungern in Dritte Welt Ländern. Ihr kreidet ausbeutende Kinderarbeit an. Und, und, und. Das habt ihr gestern gesagt, ja. Wie kann es sein, dass das dann heute noch passiert? Verstehe ich irgendwas falsch? Ist das hier ein Spiel, ein irrer Witz, oder sowas? Habe ich was nicht mitbekommen? Oder labert ihr nur? Auf Kosten des Leids anderer Lebewesen? Um euer Gewissen zu betäuben?
Wie gesagt, Sennja, wir stellen ein paar Fragen. Das ist alles.

Der Horizont und das Verständnis für die Mitmenschen, das Denken reicht oft nur vom Frontallappen bis zur Stirn.
Die Bretter vor den Köpfen sind mittlerweile aus Zement und Beton.

Hat sich hier überhaupt mal irgendwer ernsthaft gefragt was das, diese Welt, hier eigentlich ist? Ein Zufall der Natur? Ich pruste. Also… Die Philosophen wissen es nicht. Da gestehen sich aber einige wenigsten ein, dass die nichts wissen. Damit meine ich, wirklich gar nichts, null, nada, niente. Die Religionen sind ein zu komplexes Thema um sich nur in ein paar Sätzen zu äußern, kann man aber weitgehend zu den Philosophen zählen, besonders darin, dass auch sie nicht wirklich wissen. Die Wissenschaftler meinen sie kriegen irgendwann was raus und spielen im Sand. Manche gehen sogar soweit und sagen man könnte das nicht wissen. Ähm.. Und woher wiederum wollen die das dann wissen? Ein kleines Modell-Beispiel. Man kann erst wissen ob es einen schwarzen Schwan gibt wenn man ihn gesehen hat. Hat man bisher nur weiße gesehen kann man nicht wissen ob es schwarze gibt. Man kann daraus nicht folgern, dass es keine schwarzen gibt. Grundzüge der Logik. Die meisten wissen halt nicht mal, dass sie nichts wissen und denken sie wüssten.

Falls jetzt irgendwer den gewitzten Einfall hat zu sagen „und du meinst du wüsstest, wa?“ Wäre die Antwort etwas in der Art wie „Nee.“ oder „Ist mir egal.“ oder „Ich weiß nicht.“ oder „Nichts.“
Schon mal vorweg.

Ihr verkauft Euer Fragen und damit Euren gesunden Menschenverstand lieber den Leuten, die hier alles steuern. Die lachen sich ins Fäustchen. Ich nenne mal den Begriff Ausgeliefert. Macht ihr echt 1A, alles was die wollen.

Ich hoffe du genießt die Fahrt, Sennja. Macht es dir langsam Spaß?
Sehr gut. Das freut mich.
Bald eröffnen wir die Spiele, lassen die Gladiatoren in die Arena. Aber alles schrittweise, ich will Dich nicht überfordern.
Ich soll?
Habe Geduld. Vielleicht gönne ich Dir doch noch lieber Zeit.
Es wird ja noch einen zweiten Akt dieses kleinen Schauspiels geben.
Ich muss ein wenig Acht auf dich geben am Anfang.

Mein mich zerreißendes Gefühl der Trauer, der Wut und des Zorns war das Benzin, das in mein Feuer ronn. Dann wurde es zu einem Wasserfall der einen Damm zerborsten hat.
Ich hoffe ihr seid mittlerweile durstig. Trinkt!

Um sich besser zu fühlen benutzt man das Prinzip Sündenbock. In allen seinen Abstufungen in der Größenordnung. Von Rassismus, über Hass und Ausgrenzung von Minderheiten bis hinunter zum gemobbten Außenseiter.
Man sagt man bewertet Äußerlichkeiten nicht über. Ehrlich. Wer hier nicht?
Die eigene Intelligenz bestätigt man sich indem man andere für dumm erklärt.
Das meiste an Selbstlosigkeit dient nur dazu sich selbst als guter Mensch zu empfinden. Heuchelei. Aber wenigstens kommt zumindest was dabei rum.

Das alles ist halt natürlich? In der Natur finden wir alle diese Dinge, die aus hierarchischem und egoistischem Verhalten folgern doch auch vor, Tiere verhalten sich doch auch so? – Tiere lassen auch ihren Kot einfach fallen. Wenn wir es wenigstens so weit gebracht haben nicht in die Wohnung zu scheissen, sollten wir es vielleicht auch mal versuchen uns auf anderen Gebieten weiterzuentwickeln und Fortschritte zu machen. Möglich ist es ja dann empirisch bewiesener Maßen.

Von unnötig maßloser Arbeit ausgelaugt könnt Ihr Eure Wochenenden nur noch auf der Couch verbringen. Ausgenutzt. Anstatt darüber, ich halte mich zurück, unzufrieden zu sein, wird das ganze zu „Couching“ erklärt, ist also jetzt einfach hip, modern und cool. Ich kann kaum noch lachen. Verarscht worden? Wie gesagt, die Fragen beinhalten die Antwort, besonders die rhetorischen.
Vielleicht ein kleines süßes Beispiel praktischer Medienmanipulation, vielleicht einfach selbstverschuldete Dummheit. Keine Ahnung welches von beidem das schlimmere wäre, also völlig egal.

Das gesamte egoistische und hierarchische Verhalten der globalen Gesellschaft spielt dem oberen Teil der pyramidenförmigen Hierarchie in die Hände.

Dazu wird unser Sozialempfinden und -verhalten immer schlimmer und abgestumpfter, was sich auch in den Konsum-Medien spiegelt und wiederum gegenseitig bedingt.

Währenddessen bauen wir fröhlich und gemütlich an der globalen Spionageapparatur Internet. Ich lasse in diesem Zusammenhang mal den Begriff Verhaltensanalyse und Manipulation fallen, dazu den Begriff Kontrolle der Bevölkerung. Wir legen durch künstliche Intelligenz und entsprechende militärrelevante Erfindungen wie Drohnen die Basis für eine Singularität. Falls das Ding in ein paar Jahren Eigenwillen von uns „geschenkt“ bekommt und eskaliert… Nein, ich glaube nicht, dass die Bibel die Apokalypse vorhergesagt haben kann. Aber dann würde sie halt einfach trotzdem ablaufen. In ein paar Stunden.

Es gibt natürlich auch einfacher umzusetzende Endszenarien. Wir Menschen sind schließlich sehr präzise in solchen Dingen, überlassen nichts dem Zufall und haben an alternative Chancen gedacht. Zum Beispiel zerstören wir vielleicht auch einfach weiterhin unsere Lebensgrundlage. Lokalisation: Milchstraße, Sonnensystem, Planet Erde. Oder wir vernichten uns einfach gegenseitig in einem immer besser vorbereiteten Krieg. Die Dropwords? Hier: Immer bessere nukleare, chemische und biologische Waffen. Bessere Kriegsmaschinerie. Auf Abgebrühtheit getrimmte Generäle, Soldaten usw. Bessere Computer, Technik, künstliche Intelligenz, Drohnen.

Solltet Ihr gleich vorm Schlafen all die Sachen weggrübeln, die kleinen pikenden Gedanken die in Euren Köpfen entstanden sind schnell wie eingedrungene Viren mit anderen Gedanken wegerklären… Normal. Werden die meisten gleich machen. Aber mir wäre lieber, Du Sennja und ein paar, sagen wir, seelisch kraftvollere Leser, veranstalten heute Abend einen kleinen brachialen Stammestanz rund um Ihren Wohnzimmertisch und heulen kranken Singsang. Das wäre dann schon mal ein Anfang. Die anderen lasst einfach noch ein wenig weiter pennen.

Vorerst, liebe Sennja, lieber Leser, beenden wir dieses kleine explosive Spektakel. Schalten den Bildschirm wieder ab. Aber dies soll nicht nach Ende klingen, es ist Anfang.

Ich rede nicht schwarz. Es ist schwarz.
Das man diese Schwärze als grau wahrnimmt liegt an der Gewöhnung und daran, dass man etwas anderes, besseres überhaupt nicht kennt und auch gar nicht kann.
Doch enthält diese Welt so viel Schönheit. Lasst uns das mehren.“

Der Vorhang fällt. Die Schauspieler verlassen die Bühne. Wir bedanken uns bei der großartigen Sennja (Name für das Bühnenstück geändert), denjenigen in den Rollen der herausragenden Leser, denen wir die kraftvollen Seelen zusprachen, natürlich auch bei dem wundervollen Rest der Leserschaft, die in Wirklichkeit alle Teil unserer Theatertruppe sind und bei unserem netten und anscheinend strapazierfähigen Publikum.
Kommt alle gut nach Hause. Habt eine gute Nacht und einen noch besseren nächsten morgen. Es würde mich und meine kleine Theatergruppe sehr freuen wenn ein paar von Euch noch einen weiteren Abend in unser bescheidenes groteskes Theaterhaus finden. Tickets für die nächste Vorstellung werden von meinem Team an Euch beim Verlassen des Hauses gratis verteilt.

Mit Grinsen und Grazie
Niemand

 

 

Where I Wait

Where I Wait

 

I chronicle my soul

to a girl in space,
to another self
which I don´t know.

Tell her I´m in love!
Tell her I will wait!

And that I will show her
who I really am,
love her,
from the now until the end.

Tell her she shall make a wish.
In a bed of red black roses
in a room in her heart.

They synchronize
and make us one.
I make us true.
Make a wish,
mine is you.

 

 

Dieser Text als vertonte Version bei Soundcloud.
 

Der Zirkustiger, der nie einer war

Dieser Text ist als Erstveröffentlichung in dieser Anthologie erschienen:

Gewaltige Metamorphosen

Friederike K. Moorin, Christian Knieps (Hg.): Gewaltige Metamorphose. Wir brauchen konstruktive Erzählungen

Marta Press, Hamburg, Oktober 2015
ISBN: 978-3-944442-33-4
Taschenbuch, 248 Seiten
Preis:
€ (D): 19,90
€ (A): 20,90
CHF UVP (CH): 27,90

 

Der Zirkustiger, der nie einer war

 

Ich liege auf dem Boden. Auf einer großen zusammengeknüllten Baumwolldecke. Vor mir ein Stück rohes Fleisch. Sie nennen mich Baltasar. Bin die Hauptattraktion hier, übrigens. Baltasar der „furchteinflößende“ Zirkustiger. Der Käfig ist etwas größer als ich selbst, die Stäbe fünf Zentimeter dick. Ich kann aber im Kreis gehen. Wie gnädig von meinen Besitzern.

Mittlerweile hat mein Fell an Glanz verloren, es ist, um ehrlich zu sein, recht strohig geworden und so muskulös wie in den alten Tagen bin ich auch nicht mehr, eher ein wenig dürr. Bin halt schon etwas länger hier.

Früher, als sie mich noch „zähmten“, so nennt man es hier ja – in Wirklichkeit brachen sie meinen Willen durch Erniedrigungen und Schläge – war es natürlich am schlimmsten. Heutzutage bin ich klug genug die albernen Kunststücke, die von mir verlangt werden, einfach zu tun. Es war ein Reifeprozess. Eine Abtrennung meines Inneren von den äußeren Umständen. Eine Trennung, die ich allmählich herbeiführte. Außen bin ich der „ungeheuerliche“ Baltasar mit diesen lächerlichen Zirkusauftritten in der Manege. Und jedes Mal wenn der „mutige“ Dompteur seinen Schädel in meinen weit aufgerissenen Rachen hält, bräuchte ich nur den Kiefer zuklappen lassen. Aber ich weiß was ich zu erwarten hätte. Innen, in meinem Herzen, bin ich Tiger, das natürliche Tier als das ich in Wirklichkeit geboren wurde. Da ich so meine Würde durch die Jahre innerlich wiederfand, meinen Willen, ist es erträglicher geworden. Und doch warte ich zu einer Hälfte einfach nur auf meine Erlösung, auf meinen Tod.

Heute ist der „große Tag“. Abendvorstellung in der Hauptstadt. Hunderte Besucher erwarten meine Besitzer zu diesem, wie es auf den Plakaten heißt, „sensationellen Spaß für alle“. Für alle außer für meine Mitinsassen und mich. Für uns, die Elefanten, Affen, Zebras und den ganzen Rest unserer kleinen Wohngemeinschaft.

Was normalerweise meine Beute wäre, erhält hier, im Käfigstall, nur mein mattes Mitgefühl.

Wenn wir uns in die müden Augen blicken gibt es keine natürliche Nahrungskette, keine Hierarchie. Nur Leidensgenossen, die man seit langer Zeit kennt. Trübe Abgeklärtheit.

Ich höre Schritte. Ein Zebra senkt den Blick gen Boden. Die Affen werden nervös. Immer das selbe Spiel. Es scheint gleich loszugehen.

Ein paar Zirkusangestellte holen die ersten Tiere aus ihren Käfigen, damit sie ihre Show absolvieren. In ungefähr zwei Stunden bin ich an der Reihe. Der Höhepunkt des Abends, wie die Plakatwerbung verspricht.

Es riecht jetzt nach Urin und Angst aus den umliegenden Käfigen. Man hört die Festmusik, klatschen, raunen, lachen und die harschen Befehle der Dompteure.

Ich wandere in meinem Käfig auf und ab. Jedes Mal vor meiner Nummer. Es ist der Stress, die unangenehmen, teils schmerzvollen Aufgaben. Die Bloßstellungen wider unserer Natur. Die Furcht vor diesen Dingen wird man selbst nach Jahren nicht los.

Mein Pfleger kommt und holt mich. Er versucht mich mit seinen Blicken einzuschüchtern. Ich mime Unterwürfigkeit.

Er führt mich zum Eingang der Manege und gibt mir das Signal hineinzugehen. Als ich in das Rampenlicht trete, in dem der Dompteur auf mich wartet, beginnt das Publikum zu jubeln. Manche stehen auf und applaudieren.

Der Dompteur gibt mir mit einer Bewegung seiner Peitsche den Befehl mich auf ein kleines Podest zu stellen und zu fauchen. Ich gehorche. Ich soll mich auf die Hinterbeine stellen. Durch einen Ring springen. Und noch viele weitere Kinkerlitzchen.

Dann muss ich einmal im Halbkreis an der Absperrung zum Publikum entlang laufen. Das Programm variiert so gut wie nie. Doch plötzlich sehe ich, dass eines der Gatter einen Spalt offen steht, der klein genug war, um in dem ganzen Trubel nicht bemerkt zu werden. Wie ein feuriger Blitz schießt es durch mein Herz. Eine unaussprechliche Sehnsucht erfasst mich. Ich lasse mir meine Entdeckung nicht anmerken und höre auf das Signal zurück zum Podest zu gehen.

Der Höhepunkt der Show beginnt jetzt. Ich muss mein Maul weit aufsperren, so dass der Dompteur seinen Kopf zwischen meine Zähne halten kann. Um die Spannung zu erhöhen signalisiert er dem Publikum nun ganz still zu sein und man hört nur noch leises Tuscheln. Ich öffne mein Maul nach einem kleinen Wink des Dompteurs mit seiner Hand und er beugt sich vorne über, den Kopf zur Seite, Richtung Publikum gedreht, um ihn dann langsam in mein geöffnetes Maul zu stecken.

Doch plötzlich, sein Haupt zwischen meinen Zähnen, sieht er das offene Gatter.

Ich merke, als würde alles außerhalb der Zeit geschehen, dass er kurz zögert, und danach seinen Kopf herausziehen will um Alarm zu schlagen. Wie in Trance lasse ich meine Zähne ein Stück zusammenfallen. Immer noch ohne den Dompteur zu berühren. Er erschrickt und versteht was ich drohe, und lässt so seinen Kopf wo er ist. Ich spüre seine verzweifelte Angst. Er denkt, wenn er jetzt den anderen zu verstehen gibt was los ist oder versucht seinen Kopf herauszuziehen, lasse ich meine Kiefer zuschnellen. Er weiß, dass er geschlagen ist. Und er weiß, dass sich etwas in mir verändert hat. Dass seine überhebliche Sicherheit von jetzt an nicht mehr gewährt ist.

Langsam bewege ich mich rückwärts und gebe seinen Kopf frei, steige von dem Podest und gehe in Richtung der rot bemalten Absperrung, die rund um die Manege aufgebaut ist. Die Zeit ist jetzt auf meiner Seite, denn bevor den Leuten und dem Zirkuspersonal bewusst wird was hier passiert, und die anschließenden Schocksekunden überwunden sind, bin ich schon nahe dem Gatter. Nun bricht Panik aus. Leute versuchen zu den Ausgängen zu gelangen. Manche rennen, manche stehen einfach wie betäubt da. Mein Weg ist wie leergeräumt, schließlich strömen alle von mir weg. Schreien, kreischen. Ich tue euch nichts, keine Angst. Ich werde nur wieder Herr über mein Leben. Nicht über eures. Die Zirkusleute brüllen sich aufgeregt Anweisungen zu. Man solle die Gewehre holen, mich endlich abknallen. Dann verlasse ich durch das offene Gatter und den dahinter liegenden Ausgang das Zirkuszelt. Ich beginne zu rennen, bald zu sprinten. Polizeisirenen ertönen in der Ferne.

An einem Fluss auf einer kleinen Wiese angekommen, geschützt von zwei Bäumen, lege ich mich hin. Ich schließe meine Augen.

Sehe meine Eltern in der strahlenden Sonne der Savanne und meine Brüder und Schwestern wie sie auf dem staubigen Boden herumtollen. Sehe wie es früher einmal war. Mein Herz schlägt endlich wieder. Ich habe mein Leben zurückerobert. Bin wieder Tiger. Ich höre mittlerweile wie die Verfolger nach mir rufen. Die Zirkusleute, Polizisten, Feuerwehrleute. Wie sie Baltasar schreien und immer näher kommen. Erste Schüsse fallen. Zwei schlagen neben mir in den Boden. Weitere surren an mir vorbei durch die Luft. Ich halte meine Augen geschlossen, bleibe in der Heimat, in der Savanne. Ich bin nicht mehr Baltasar. Ich war es nie.